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Sinn versus Wissen

Michael Seibel •    (Last Update: 24.02.2014)

Was war uns nach unserem Brainstorming zum Phänomen Glauben, so unvollständig und im einzelnen zufällig es auch sein mochte, aufgefallen?

Glauben ist offenbar eine ausgezeichnete Form des mentalen Bezugs jedes Menschen auf Mannigfaltiges. Das ist u.a. aus folgendem Grund für einen Philosophen bemerkenswert: Die Philosophie hat sich die meiste Zeit über weit interessierter mit der menschlichen Fähigkeit, Begriffe zu bilden und also zu verallgemeinern, befasst, als mit der Fähigkeit, sich auf besonderes Einzelnes zu beziehen.

Man war eigentlich wenig geneigt, im Bezug auf Einzelnes überhaupt eine besondere geistige Leistung zu sehen. Der Bezug auf Einzelnes wurde zunächst grob gesagt als etwas bloß Sinnliches und damit als weniger wertvoll und als mitunter trügerisch angesehen.

Dem in Begriffe gefassten Allgemeinen haben Philosophen wie Platon unter dem Titel Eidos (übersetzt mit Idee sogar eine höhere Form des Seins zugesprochen als dem Mannigfaltigen Einzelnen. Dies war bloße Erscheinung, jenes wahres Wesen.

Offenbar kann all das, dessen wir uns bewusst sind, sozusagen einzeln Gegenstand eines Glaubens sein. Und ganz offensichtlich ist Glauben eine intellektuelle Leistung und nicht reduzierbar auf ein passives Affiziertwerden meiner Sinne.

Die beiden Sätze „Etwas ist“ und „Ich glaube, dass etwas ist“, sagen vor der Hand nicht genau das gleiche. Mit dem zweiten Satz: „Ich glaube, dass etwas ist“, nehme ich dem „Etwas ist“, der sogenannten Proposition gegenüber, eine bestimmte Haltung ein. Ich könnte auch andere Haltungen einnehmen als „ich glaube“, z.B. „ich wünsche“, „ich erwarte“, „ich befürchte“ und viele mehr. „Ich glaube, dass etwas ist“, ist eine bestimmte Art, anzuerkennen, dass etwas ist, und es ist sehr die Frage, ob überhaupt etwas für mich existieren kann, ohne dass ich ihm gegenüber eine Haltung einnehme, sei es die des „ich glaube“ oder eine oder mehrere andere Haltungen. Es ist äußerst fraglich, ob man überhaupt in der Lage wäre, das Sein von etwas anzuerkennen, ohne ihm gegenüber eine Haltung, welche auch immer, einzunehmen.

(By the way: Mindestens ebenso spannend ist es, mit etwas konfrontiert zu werden, dessen Sein man nicht anzuerkennen bereit ist. Denken sie an Lebensereignisse, die mit Angst oder Trauer verbunden sind. Offenbar wäre das ein Sachverhalt an der Grenze von Philosophie und Psychologie. Eine Reihe von Philosophen legen aus unterschiedlichen Gründen großen Wert darauf, Philosophie und Psychologie streng zu trennen. Andere halten eine solche Trennung für illusorisch.)

Sogleich muss allerdings gesagt werden, dass die neuzeitlichen Wissenschaften gerade das versuchen, über Seiendes zu sprechen, indem sie gleichzeitig von jeder besonderen Haltung ihrem Erkenntnisgegenstand gegenüber absehen, also ohne jedes „ich glaube“, „ich möchte“ und selbst auch ohne jedes „ich weiß“. Was bleibt, ist ein „ich beobachte“, wobei dieser Ich auch jeder andere sein können muss. Streng genommen würde ein heutiger Naturwissenschaftler, nachdem er sich seiner Gründe versichert hat, nicht einmal sagen: „Ich weiß, dass Schnee weiß ist“, denn damit hätte er dem, was ihm als Tatsache gilt, eine Haltung hinzugefügt und sozusagen die Fakten verunreinigt. Er würde sich lediglich berechtigt fühlen zu sagen: „Schnee ist weiß.“

Was heißt das jetzt? Das zeigt uns, im Phänomen des Glaubens entdecken wir die Verbundenheit von Sein und Sinn. Könnte man diese Verbindung auch trennen? Besteht die Verbindung auch sozusagen unbemerkt weiter, wenn vom Sinn gar nicht die Rede ist, sondern nur von Seiendem? Ist es eine ursprüngliche Verbindung? Gibt es schlechterdings sinnloses Sein? Muss etwas zuerst einmal überhaupt sein, um sinnvoll sein zu können? Oder sind Sein und Sinn gleich ursprünglich und die Trennung von beidem ist etwas Künstliches und Nachträgliches? Darüber gibt es ganz verschiedene Ansichten.

Zur Verdeutlichung: Wir sind seit langem ganz alltäglich mit der Zumutung konfrontiert, Dinge und Lebensverhältnisse als gegebene Tatsachen, als wenn auch nicht unveränderbare, aber doch zumindest beinharte Fakten hinzunehmen. Die Frage nach ihrem Sinn oder Unsinn scheint demgegenüber das Zweite zu sein. Der Sinn kommt sozusagen immer etwas zu spät. Und wenn uns etwas als wenig sinnvoll erscheint, wenn wir unser gegen es gerichtetes Urteil, unsere abschlägige Wertung bemerken, ist es, als müsse sich der Sinn gleichsam durch die Hintertür an sinnfreie, harte Fakten heranschleichen. In beruflichen Zusammenhängen sind wir gewohnt, an Erfordernisse und Fakten zu denken und den Sinn unserer jeweiligen Tätigkeiten keineswegs dauernd zu thematisieren.

Ein kurioses Beispiel aus der Amtswirklichkeit: Ein Hartz 4 Empfänger beantragt ein neues Gebiss, weil sein altes kaputt ist. Man bewilligt ihm einen Küchenmixer.

Was halten Sie von der Lösung aus Sicht der beiden Begriffe Sein (≈ Kosten/Nutzen) und Sinn?

Also: die Frage „woran glauben wir eigentlich ganz alltäglich?“ verweist uns an den Zusammenhang von Sein und Sinn. Und um das etwas näher anzuschauen, hatte ich die beiden kleinen literarischen Texte vorgestellt: Das Gedicht „Selbstportrait 1914-1918“ von John Berger und das kurze erste Kapitel aus Musils „Mann ohne Eigenschaften“ Am Gedicht von John Berger finde ich ergreifend und wunderschön, wie er die selbst gestellte Frage beantwortet: Was bedeutet einem ein Kind, das man noch gar nicht hat (sozusagen ein Sinn ohne Sein) in einer Zeit des Krieges, in der alles vor die Hunde geht (sozusagen einem Sein ohne Sinn)?

Sinn ist immer eine Sache der Übergänge, nichts Starres. Ein Beispiel für einen besonders rasanten Übergang ist folgender:


Selbstporträt
1914 – 18

Heute scheint es, daß ich jenem Krieg ganz nahe kam.
Ich bin geboren acht Jahre nachdem er beendet
und der Generalstreik niedergeschlagen war.

Dennoch wurde ich bei Leuchtkugeln und Schrapnells
auf einem Laufrost geboren
zwischen Gliedern ohne Körper.

Ich wurde aus dem Blick der Toten geboren
in Senfgas gewindelt
und in einem Unterstand gestillt.

Ich war die grundlose Hoffnung auf Überleben
die mit Schlamm zwischen Finger und Daumen
in Abbéville zur Welt kam.

Ich lebte das erste Jahr meines Lebens
zwischen den Seiten einer Taschenbibel
die in einer braunen Provianttasche stak.

Ich lebte das zweite Jahr meines Lebens
mit den Fotos von einer Frau
in einem normalen Soldbuch verborgen.

Im dritten Jahr meines Lebens
am 11. November 1918
wurde ich alles, was vorstellbar war.

Ehe ich sehen konnte
ehe ich schreien konnte
ehe ich Hunger haben konnte

war ich die Welt, in der es Helden gibt.


(John Berger 1985)


Hoffentlich wird jetzt niemand sagen, das sei ein Text ohne Bedeutung. Denn, wie gesagt, geboren wurde John Berger erst 8 Jahre später, 1926. Seine Karriere als Sinn reicht, wie es scheint, weiter zurück. Das geht uns jedoch allen so.

Das zweite literarische Beispiel, den Musil-Text, habe ich wegen eines ganz anderen Typs von Dichte ausgewählt. Hier geht es ebenfalls um Sinn, um die Frage: woran orientieren wir uns, woran erkennen wir etwas, Orte, Stimmungen, andere Menschen. Was ist dabei wichtig, was nicht? Was möchten wir gerne glauben? Was beunruhigt uns? Wann sind wir zufrieden mit dem, was wir darüber erfahren? Und kann man aus diesem spezifischen Gemisch aus Erwartungen und Überzeugungen vielleicht sogar eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Schlag von Menschen sehr präzise erkennen? Und in der Tat: Die Menschen, die Musil nicht ohne Ironie beschreibt, trugen die Anfangs­buchstaben ihrer Namen bedeutsam auf ihre Wäsche gestickt, und ebenso, das heißt nicht nach außen gekehrt, wohl aber in der feinen Unterwäsche ihres Bewußtseins, wußten sie, wer sie seien“.

Wenn uns Bergers Text als Beispiel dienen kann, wie hoch verdichtet Sinn sein kann, so erzählt Musils Text auf virtuose und ebenfalls sehr verdichtete Weise, aus wie heterogenen Elementen unsere alltägliche Orientierung komponiert ist und wie wenig angewiesen auf mit Wissen im strengen Sinn.

Sinn, so scheint mir nach wie vor, ist die Domäne der Literatur und Kunst. Wissen scheint heute Domäne der positiven Wissenschaften zu sein. Nach Wahrheit fragt die Philosophie.

Diese Dreiteilung sollte uns verdächtig vorkommen. Und dem Verdacht wollen wir weiter nachgehen. Jedenfalls ist der Abstand von einem Satz wie „Schnee ist weiß“ und den Gründen, ihn für gerechtfertigt zu halten, hin zu dem Satz „Ich war die grundlose Hoffnung auf Überleben (… , aber) am 11. November 1918 wurde ich alles, was vorstellbar war“ unermesslich groß.

Aber um genau diesen Abstand geht es. Verzichten müssen würde ich auf keinen von beiden gern.


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